Ein integraler Teil des UWC Konzeptes und derjenige Punkt, der mich persönlich zum Bildungskonzept der UWC Schulen hinzog ist der Aspekt des sozialen Dienstes. In meiner Erfahrung am UWC in Indien war der tatsächlich geleistete «Dienst» jedoch bloss ein kleiner Teil des Programmes. Vielmehr ging es um eine Auseinandersetzung mit dem Gastgeberland und den Herausforderungen der lokalen Bevölkerung, der Reflektion der eigenen Rolle in einem fremden Kontext und ums Erarbeiten von Lösungsansätzen die es erlauben, den gut gemeinten Idealismus und Tatendrang (reichlich vorhanden an einem UWC) in nachhaltige und effektive Projekte umzusetzen. Meine eindrücklichste Erfahrung des «Service learnings» durfte ich beim Mitentwickeln eines neuen Projektes machen. Im Nachhinein kann ich mit Sicherheit sagen, dass dies der lehrreichste und herausforderndste Teil meiner UWC Erfahrung war. Das Konzipieren des Projektes erforderte ein Verständnis von und Akzeptanz für die Komplexität des Problems, gute Zusammenarbeit mit verschiedensten Gruppen und nicht zuletzt eine gesunde Portion Selbstreflexion und Geduld.
Auf unserem Campus stammen viele der Angestellten, die sich um Infrastruktur, Essen und CAS kümmerten, aus den umliegenden Dörfern. Unter anderem auch Komal und Dipali, die zwei jungen Frauen, die die eigentlichen Protagonisten dieser Geschichte sind. Komal und Dipali wandten sich mit einem Wunsch an uns: Ein Projekt zum Thema Menstruation. Ich war zu Beginn etwas überrascht, denn ich wusste zugegebenermassen sehr wenig über die vielen Hürden, denen Frauen und Mädchen in ländlichen Regionen Indiens monatlich gegenüberstehen. Über die nächsten Wochen haben wir durch Besuche und Gespräche mit Frauen in den Dörfern, aber auch über Internetrecherchen vieles über die Lebensrealität der menstruierenden Bevölkerung Indiens gelernt: In Indien gelten diese Frauen während ihrer Periode als unrein und dürfen oftmals das Haus (auch während des Monsuns) nicht betreten. Zudem sind Infrastruktur und Zugang zu Hygieneprodukten unzureichend, sodass viele Mädchen während der Periode die Schule nicht besuchen können und sogar gänzlich aufhören, zur Schule zu gehen. Zudem ist wenig über die biologischen Hintergründe der Menstruation bekannt und Lehrmaterialien sind rar, auch weil das Stigma um die Thematik das offene Gespräch verhindert.
Dies hat negative Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit der betroffenen Frauen und ist eine grosse Barriere für die Gleichstellung der Geschlechter. Nach unseren Recherchen war für uns schnell klar, dass wir ein Projekt zu diesem Thema machen wollten, und dass dieses Projekt mindestens zwei Komponenten aufgreifen musste: Es musste einen Raum zur Verfügung stellen, wo die Gesellschaft über Menstruation und das erlebte Stigma sprechen und lernen kann, gleichzeitig müssten aber auch die materiellen Hürden betreffend Zugang zu Produkten überwunden werden. Wir haben einige Wochen mit Komal, Dipali und einigen weiteren engagierten Frauen aus den Dörfern mögliche Projektformate besprochen. Auch hatten wir über das UWC Netzwerk die Möglichkeit, Alumni zu kontaktieren, die viel Projekterfahrung im Bereich Menstrual Hygiene Management hatten und uns jeweils weiterhelfen konnten, wenn wir erneut auf eine Hürde trafen. Und Hürden gibt es bei einem kulturell so sensitiven Projekt wirklich viele! So war es uns äusserst wichtig, dass die Frauen und Mädchen, die bereit waren, sich im Rahmen des Projektes mit dem Thema Menstruation zu befassen und in ihren Dörfern darüber zu sprechen, in der patriarchalen Gesellschaft nicht ausgegrenzt werden und nicht in Konflikte geraten würden. Auch wollten wir sicherstellen, dass die von uns vermittelten Produkte in der spärlichen Infrastruktur der Dörfer sicher, hygienisch und damit ohne gesundheitliches Risiko benutzt werden konnten.
Nach einigen Wochen Diskussion hatten wir unser Grundkonzept bereit:
In enger Zusammenarbeit mit zehn Frauen aus zwei Dörfern erstellten wir gemeinsam einen «Lehrplan» für eine Reihe von Veranstaltungen. Zudem wollten wir Menstruationstassen und Stoffbinden zugänglich machen, da diese auch mit minimaler Infrastruktur sicher benutzt werden können und das Problem des Entsorgens und der Umweltbelastung entfällt.
Um unser Projekt «Amaavasya» finanzieren zu können haben wir unseren Projektentwurf bei der Young Aurora Initiative für UWC Schulen eingereicht. Nachdem wir unser Projekt in Yerevan einer Jury vorstellen durften, erhielten wir von einem grosszügigen anonymen Sponsor 4000 Dollar für die Umsetzung des Projekts.
Die richtige Arbeit hatte damit aber gerade erst angefangen. In meinem zweiten Jahr haben wir jeden Dienstag und Donnerstag in unserem Team von acht Studentinnen Aktivitäten vorbereitet und organisiert. Jeden Sonntag haben wir uns mit den zehn Frauen (Kernteam), die die Initiative in ihren jeweiligen Dörfern leiteten, getroffen. Wir haben neue Dinge gelernt, viel diskutiert und Pläne für die Sitzungen in den Dörfern erarbeitet. Parallel zur Initiative in den Dörfern, in der das Kernteam federführend war, haben wir Studentinnen auch auf dem Campus die Stigmatisierung der Menstruation thematisiert und umweltfreundliche Produkte wie Menstruationstassen und Stoffbinden vermittelt.
Das Projekt existiert immer noch, und wird vom Kernteam weitergeführt. Komal (Mitglied und Leiterin Kerngruppe) schreibt: «Für mich ist das Highlight, dass die Frauen ihre eigenen Sitzungen in Asde und Sawargaon leiten, ohne unsere Hilfe zu benötigen. Zu sehen, wie ihr Selbstvertrauen seit dem Beginn von Amaavasya gewachsen ist, hat mir das Gefühl gegeben: Das ist es! Wir müssen dieses Projekt ausbauen und auf das gesamte Mulshi-Tal ausweiten. Wir sind jetzt in Gesprächen, um diese Sitzungen in Schulen abzuhalten, und erhalten sogar Anfragen von Menschen aus anderen Dörfern, die Sitzungen in ihren Gemeinden abhalten wollen.»
Wenn ich heute zurückschaue, dann weiss ich, dass die bedeutsamste Wirkung des sozialen Dienstes auf mich aus der Interaktion mit den Frauen heraus entstanden ist. Wir haben mit unserem Projekt versucht, das Leben anderer in bedeutsamer Weise zu «berühren». Während des Prozesses haben jedoch die Frauen auch unser Leben in bedeutsamer Weise «berührt». Es braucht sehr viel Mut und Integrität sich einer Ungerechtigkeit anzunehmen, die selbst in den engsten Kreisen des eigenen Umfeldes tief verwurzelt ist. Ich habe aus erster Hand erleben dürfen, wie mutige junge Frauen ihre Stimme gefunden haben, und habe dabei nicht nur eines, sondern gleich zehn neue Vorbilder gewonnen.